Samstag, 18. August 2007

Der Kluge reist im Zuge

Neulich belauschte ich in der S5 von Zürich Richtung Oberland ein Handy-Gespräch der besonderen Art. Für einmal wurden der Welt nämlich weder die üblichen Beziehungsprobleme («Nei Schatz, mer händ en Apéro im Gschäft gha») noch Geldsorgen («Ich bruch de Stutz megadringend») mitgeteilt, sondern das Problem eines sich füllenden Brunnens erörtert. Man mag sich wundern, wie man eine Viertelstunde über ein Wasserspiel diskutieren kann, doch die Sache ist kniffliger, als es den Anschein macht.Das Gespräch geht gleich mit dem Wichtigsten los: «Weisst du jetzt, wie man den Brunnen berechnet?» Der Anrufer horcht in sein Mobiltelefon, die Antwort befriedigt ihn nicht: «Nein, du musst zuerst das Volumen ausrechnen. Höhe mal Breite mal Tiefe.» - Aha. Ein Brunnenkonstrukteur, der seinem Lehrling Anweisungen gibt, denkt sich der interessierte Zuhörer. «Und wie viel läuft in der Minute hinein?» - Das ist nun wirklich eine gute Frage für den Brunnenbauer. Der Stift hat es offenbar schon ausgerechnet, denn der Lehrmeister bestätigt das Gehörte. «Und jetzt musst du wissen, wie viel rausläuft», gibt er die nächste Anweisung in sein Handy. - Oh Schande, der Brunnen hat auch noch ein Leck! Der Lehrling sollte es flicken, zustopfen, mit seinem Hemd, irgendwie, möchte ich dem Lehrmeister zu verstehen geben. Er beachtet mich nicht, hat aber inzwischen ein Blatt Papier gezückt und präzisiert seine Angaben. «Wenn du die Höhe weisst, dann ist jetzt der Durchlauf auch klar, oder?» - Logo, kein Problem. «Das kannst du ja mit dem Volumen berechnen», gehen die Instruktionen weiter. - Hätte er aber auch selber draufkommen können, der Junior am anderen Ende der Leitung.Dann klart die Miene des Brunnenbauspezialisten mit einem Male auf: «Genau. Jetzt hast du es verstanden. Ja, nun ist der Zwanziger gefallen.» - Auch ich bin beruhigt, dass die Gefahr einer Überschwemmung fürs Erste gebannt ist. Der Lehrmeister beendet das Gespräch mit folgenden Worten: «Gib die Aufgabe morgen ab. Nimmt mich Wunder, was dein Mathi-Lehrer dazu sagen wird.» - Mathi-Lehrer?, fragt sich der vom Mitfiebern etwas ermattete Mitreisende. Langsam dämmert es: Offenbar hatte ich gerade einer Nachhilfestunde im Sätzlirechnen beigewohnt. Keine Spur von Brunnenbauer und Lehrling. Drei Dinge habe ich aber gelernt: 1. Bildung ist teuer (die Handy-Rechnung des vermeintlichen Lehrmeisters möchte ich jedenfalls nicht sehen), 2. der Brunnen ist in 27 Minuten gefüllt, und 3. der Kluge reist tatsächlich im Zuge - der Dumme sitzt nämlich zu Hause und büffelt Dreisätze.

Der 1. August 2008 ist gerettet

Neulich habe ich auf einer Speisekarte ein Gericht entdeckt, das ich vor lauter Ethnofood schon längst tot geglaubt hatte: Wurstsalat garniert. Es gibt wohl nichts Urschweizerischeres als einen Wurstsalat.
Doch im Gegensatz zur hiesigen Demokratie und Eigenständigkeit ist dieses nationale Symbol wirklich bedroht. In einen Wurstsalat gehört ja nicht irgendeine Wurst, sondern ein in Scheiben geschnittener Cervelat.
Dieser Wurst geht es jetzt aber an den Kragen, weil die «Haut», wie die Import-Rinderdärme verniedlichend genannt werden, bald nicht mehr geliefert werden können. Der Cervelat (wieso haben eigentlich alle Schweizer Spezialitäten französische Namen? - Fondue, Raclette, Gruyère) ist eine Kindheitserinnerung und weckt Heimatgefühle.
Am Sporttag verteilte man uns in der Mittagspause jeweils einen Imbiss. Dieser bestand aus einem rohen Cervelat, einem Bürli und einem Fläschli Most. Verschwitzt setzten wir uns auf den Fussballrasen und bissen herzhaft in die Brätmasse. Nur bei der Frage, ob der zähe Rinderdarm, welcher die Masse in Form hält, mitgegessen werden soll oder nicht, schieden sich die Geister. Dieser Zmittag wird heute nicht mehr verteilt am Sporttag. Vielleicht auch wegen der Sparmassnahmen, aber vor allem, weil man einen rohen Cervelat nicht mehr ganz zeitgemäss findet.
Als ich 20 Jahre später als Begleitperson auf eine Schulreise mitging, war die Frage «Cervelat schälen oder nicht?» immer noch nicht vom Tisch. Eines der Schulkinder hatte jedoch eine klare Vorstellung, wie es seine Wurst haben wollte: «Ohne Fell, bitte.» Gut, hab ich halt dem Ding das Fell über die Ohren gezogen. Der Knabe war glücklich, hielt seine Wurst kurz in die Flammen, bis sie aussen verkohlt und innen noch kalt war - es schmeckte ihm vorzüglich ...
Es wäre ja wirklich ein Jammer, wenn uns künftig solche Szenen und gastronomische Erfahrungen vorenthalten bleiben würden. Einen positiven Effekt hätte der Untergang des Cervelat aber vielleicht doch: Die nach der Wurst benannten Lokalberühmtheiten - eben die Cervelatprominenz - würde mit dem Cervelat verschwinden, so meine Hoffnung. Wie schön wäre es, nie mehr Bilder von Baschi und Francine Jordi in der Zeitung sehen zu müssen. Dafür könnte ich glatt zum Vegetarier werden.
82 Millionen Cervelats gehen jedes Jahr über die Ladentheken der Schweiz. Gemäss dem Schweizer Bauernverband wird das auch nächstes Jahr noch so sein. Zwar können weder aus Brasilien noch aus Paraguay mehr Rinderdärme eingeführt werden, aber zur Not könne man auch auf solche aus Australien oder Neuseeland ausweichen.
Wie dem auch sei, Hauptsache, unsere urschweizerische Wurst ist gerettet. Und falls alle Därme reissen sollten, bleibe immer noch die Möglichkeit, Schweinedärme zu verwenden, heisst es beim Bauernverband. Die kommen dann wahrscheinlich aus China oder Polen.
Aber egal, Hauptsache, der nächste Nationalfeiertag ist gerettet.